Zum Projekt

Das Kunst- und Kulturprojekt „FreiSpinnerei“ fand zu einem historischen Zeitpunkt statt: Knapp 150 Jahre lang prägte die Textilindustrie die Stadt Wangen. Nach dem endgültigen Aus Mitte der 1990er Jahre steht das Gelände der ERBA-Spinnerei und Weberei, abgesehen von einigen kleineren Zwischennutzungen, seit über zwanzig Jahren leer und ist mittlerweile in einem ruinösen Zustand. Eingebettet in die Planungen für die Landesgartenschau 2024, hat nun die Neugestaltung des Areals begonnen. Ein großer Teil der alten Fabrikanlagen wird abgerissen, einige Gebäude werden saniert und umgenutzt, Neubauten entstehen.

Martha Materna, ohne Titel, Installation, 2017 (vorne)

Margit Hartnagel, ohne Titel, Installation, 2017 (hinten)

Foto: © Christoph Morlok

Das bedeutet, dass der ursprüngliche industrielle Charakter des Areals verloren geht. Das bedeutet auch, dass mit der Neugestaltung dieser gigantischen Leerstelle, dieses „Fragezeichens“ im städtischen Raum, für viele Menschen ein Ort der Erinnerung verschwindet - der Erinnerung an Jahrzehnte des Arbeitens und Lebens in und mit der ERBA, die mit ihren umfassenden betrieblichen Sozialeinrichtungen in Wangen so etwas wie eine eigene kleine Welt gebildet hat.

 

Außerdem geht mit der Neugestaltung ein großer Gentrifizierungsprozess einher. Einerseits werden neue wertige Räume geschaffen für Lebensqualität, Kunst und Kreativwirtschaft. Andererseits konfrontiert die weitgehende Neugestaltung des Auwiesenquartiers die dort lebenden Menschen mit großen Veränderungen ihres Lebensalltags.

 

Diese Situation macht jedes Kulturprojekt im ERBA-Areal zu einer Herausforderung. Insbesondere, wenn es sich mit dem historischen und kulturellen Erbe der ERBA beschäftig und Stellung beziehen will. 

Martha Materna, ohne Titel, Installation, 2017

Foto: © Christoph Morlok

Am Anfang der „FreiSpinnerei“ stand der Wunsch der Wangener Künstlerin Martha Materna, die letzten Tage der alten ERBA-Hallen für eine künstlerische Intervention zu nutzen. Seit kurzem in unmittelbarer Nähe der Fabrik wohnhaft, hatte sie beim ERBA-Stadtteilfest 2016 bunte Hülsen entdeckt, die dort als Blumenvasen für kleine Spenden verteilt wurden. Wie sie dann erfuhr, lagert eine große Menge davon immer noch auf dem Gelände. 

 

Martha Materna, ohne Titel, Installation, 2017

Foto: © Christoph Morlok

 Auf diese schlanken Röhren wurde in der Spinnerei das Garn gewickelt. Eine Vielzahl von Mustern und Farben auf den Hülsen diente der Unterscheidung der Garnsorten - und inspirierte Martha Materna schließlich zu ihrer monumentalen und doch fragilen Rauminstallation in der großen Halle des ehemaligen Garnlagers im Gebäudekomplex der Weberei. Auf rote Leinen aufgefädelt, bildeten die Hülsenstränge einen dichten, zugleich aber auch transparenten Körper im Raum, der in den Boden hinunter wie in den Himmel hinauf in permanenter Bewegung zu sein schien.

Margit Hartnagel, ohne Titel, Installation, 2017

Foto: © Christoph Morlok

Im gleichen Raum schuf die Wangener Künstlerin Margit Hartnagel ein sensibel inszeniertes Display von Stoffmustern aus ERBA-Produktion. Strukturiert durch einen horizontalen Hängeraster aus Drahtseilen fügten sich die in gleichmäßigen Bahnen gefalteten und gelegten ERBA-Stoffe zu einer wandgreifenden Komposition. Muster und Farbstellungen aus mehreren Jahrzehnten ergaben ein komplexes Bild. 

 

Margit Hartnagel, ohne Titel, Installation, 2017

Foto: © Christoph Morlok

 Inmitten dieses künstlerischen Dialogs fand während der Ausstellung ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm mit Tanz, Musik, Performances und einer Lesung statt, die thematische Exkurse boten und zum Teil direkt mit den Kunstwerken im Raum interagierten. 

Barbara Glazar, Tanzperformance

Foto: © Christoph Morlok

Martha Materna als Initiatorin wie auch die anderen am Projekt Beteiligten hatten von Anfang an die Absicht, die Geschichte und Kultur der Wangener Textilindustrie neben der freien künstlerischen Verwandlung auch auf anderen Wegen greifbar und erlebbar zu machen.

 

So versuchte ich, mit einer Fotoinstallation "Was bleibt?" im ehemaligen Bürosaal die Wangener Textilindustrie und speziell die für eine bestimmte Industriekultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts typische „ganzheitliche“ Struktur der ERBA mit ihren sozialen Einrichtungen von Säuglings- und Kinder- bis zum Altenheim darzustellen. In der assoziativen Zusammenstellung von Bildern aus privaten Quellen und der Sammlung des Fördervereins ERBA Museum sollte Geschichte in Geschichten lebendig werden, die von Aufbruch, Stolz, Fleiß und Anstrengung und schlussendlich Auflösung handeln.

 

Um Geschichte in Geschichten ging es auch im Medienprojekt „ErBaLeben“: Im Juli 2017 wurden Menschen filmisch porträtiert, deren Leben von der ERBA maßgeblich geprägt ist. Ein knappes Dutzend Wangener Jugendliche (allesamt lange nach der Schließung der Werke geboren) produzierten unter der Anleitung von zwei jungen Regisseuren einen dichten Kurzfilm voller interessanter Informationen und anrührender Geschichten. 

 

Auch während der Ausstellung konnte die Textilkultur und das Erbe der ERBA spielerisch kreativ selbst erkundet werden: Für Kinder hatten die Künstlerinnen und Pädagoginnen Reinelde Summer und Cecile Frankenberg eine Werkstatt und einen Spielraum eingerichtet, in denen mit textilem Material und auch mit den Hülsen gebastelt wurde, in denen Theater gespielt wurde und Märchen erzählt wurden. 

 

Außerdem fand inmitten der Ausstellung an beiden Wochenenden der Textilworkshop „FreiSchneiderei“ statt. Geleitet wurde er von der international erfahrenen Modedesignerin Brigitte Katharina Maier. Das Thema war „Upcycling“, der kreative Umgang mit alten und neuen Materialien. Schon seit längerem entwickelte Brigitte Katharina Maier Ideen für textile Kreativworkshops. Dabei spielten weitreichende Überlegungen durchaus eine Rolle: Welchen Wert hat heutzutage Bekleidung, Mode und – ganz allgemein – die Ware? Was hat sich hier verändert seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert? Welche Rolle spielt jede/r von uns in den globalen Zusammenhängen? Welchen Einfluss haben wir als bewusste Konsument*innen?

 

Der aktuelle Trend des bewussten Konsumierens, in dem auch das Thema des „Upcycling“ in unterschiedlichsten Bereichen aufgekommen ist, versucht den radikalen Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung entgegenzuwirken. Damit kommt indirekt wieder die Geschichte der Wangener Textilindustrie in den Blick: Die ERBA musste letztendlich auch schließen, weil im Zuge der Globalisierung der Konkurrenzdruck bei den Lohnkosten zu groß wurde. Damals wurden die meisten Maschinen in Niedriglohnländer verkauft und laufen dort vermutlich zum Großteil heute noch. 

 

In all seinen Facetten und unterschiedlichen Ebenen näherte sich das Projekt „FreiSpinnerei“ auf verschlungenen Wegen dem Phänomen „ERBA“, das nicht nur die Stadt nachhaltig geprägt hat, sondern für eine längst vergangene Industriekultur steht. In diesem Projekt traf Kunst auf vielfältige Angebote des freien kreativen Arbeitens für alle. So wurde auf künstlerisch spielerische Weise ein letzter Ausflug in eine vergangene Welt möglich, und zugleich strahlten Impulse in die Zukunft.

 

Thomas R. Huber

ErBaLeben

Im August 2017 wurden Menschen filmisch porträtiert, deren Leben von der ERBA maßgeblich geprägt ist. Ein knappes Dutzend Wangener Jugendliche (allesamt lange nach der Schließung der Werke geboren) haben unter der Anleitung von zwei jungen Regisseuren einen dichten Kurzfilm voller interessanter Informationen und anrührender Geschichten produziert.  Der Film wurde in der Ausstellung gezeigt.

 

"ErBaLeben" wurde für den Jugendbildungspreis Baden-Württemberg 2019 des Ministeriums für Soziales und Integration nominiert.


Was bleibt?

 In dieser Fotoinstallation wurde die lange Tradition der Wangener Textilindustrie in Schlaglichtern lebendig. Dafür wurden verschiedene Bereiche der ganz speziellen ERBA-Kultur dargestellt – vom Arbeitsalltag in hochtechnisierter Umgebung über die betrieblichen Sozialeinrichtungen (Säuglings- und Kinderheim, Hort, Altenheim) bis zu Freizeit, Feiern und Ruhestand.  

 

Die historische Linearität und die Komplexität der Produktionsabläufe trat dabei in den Hintergrund. Der Fokus lag auf der visuellen Kraft der Bildzeugnisse. Diese kamen aus ganz unterschiedlichen Quellen. Neben Fotos aus dem Archiv des Fördervereins ERBA-Museum e.V. wurden private Fotosammlungen von ehemaligen ERBA-Mitarbeiter*innen herangezogen. 

Menschen standen im Mittelpunkt dieser Bilderschau. Über Gesichter, Körperhaltungen und Kleidung wird unendlich viel ausgesagt über das Wesen der industriellen Arbeit, über Anstrengung und Erholung, Freude und Sorge, über Hierarchien in der Arbeit wie im restlichen Leben. 

 

Die ERBA bot mit ihren sozialen Einrichtungen eine Absicherung der Existenz vom Säuglings- bis zum Greisenalter. Man war Teil einer großen Familie mit dem Chef als gutem Hirten. Doch diese Familie war natürlich zu großen Teilen auf maximale Produktivität konzipiert, auf einen optimalen Einsatz der Mitarbeiter*innen. Es war ein Geben und Nehmen. Einige der vielen Geschichten aus der großen ERBA-Familie sprechen aus diesen Fotos.

 

Die Fotoinstallation war in vier große Themenbereiche gegliedert, die sich, aneinander anschließend, über zwei Wände des Bürosaals erstreckten: „Aufbruch“,  „Stolz“, „Fleiß und Anstrengung“ und „Auflösung“.


FreiSchneiderei

„Upcycling“, also Neues aus alten Dingen schaffen, liegt voll im Trend. Gerade im Textilbereich ist mit Second-Hand-Klamotten, Stoffen und verschiedensten Restbeständen und Materialien so vieles möglich. Neuerdings denken auch viele bekannte Designer und Trendforscher über das Thema nach, zum Beispiel Stella MacCartney, die Stoffe aus den Plastikteilen im Meer machen lässt. Vivienne Westwood ruft zum Konsumverzicht auf, Li Edelkoort erwartet ein Ende der Mode, wie wir sie kennen.

 

Selber machen, der eigenen Schöpferlust beim Nähen, Handstricken und Häkeln freien Lauf lassen, altes Material und Fundstücke aller Art verwandeln – das war das Motto des Textilworkshops „FreiSchneiderei“, der im September 2017 im Rahmen des Kunstprojekts „FreiSpinnerei“ in Räumen des ERBA-Industriegeländes in Wangen im Allgäu durchgeführt wurde. Die ERBA, eine große Spinnerei, Weberei und Textilverarbeitungsfabrik, prägte Wangen über 130 Jahre lang. Seit der Insolvenz Mitte der 1990er Jahre stehen die weitläufigen Anlagen leer, und werden in den kommenden Jahren komplett restrukturiert.

 

Geleitet wurde der die "FreiSchneiderei" von Brigitte Katharina Maier, die bereits eine leitende Funktion im Kreativbereich von Hugo Boss hatte. In den letzten Jahren war sie Head of Design bei Escada in München. Schon seit längerem entwickelt sie Ideen für textile Kreativworkshops. Dabei spielen weitreichende Überlegungen durchaus eine Rolle: Welchen Wert hat heutzutage Bekleidung, Mode und – ganz allgemein – die Ware? Was hat sich hier verändert seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert? Welche Rolle spielt jede/r von uns in den globalen Zusammenhängen? Welchen Einfluss haben wir als bewusste Konsument*innen?

 

Doch keine Angst – dieser Workshop wurde kein theoretisches Seminar! Inmitten der Ausstellung „FreiSpinnerei“ in den alten ERBA-Räumen arbeitete Brigitte Katharina Maier mit hochmotivierten Hobbyschneider*innen in einem bunten Kreativcamp mit Nähmaschinen, diversem Werkzeug und einer spannenden Schatzkiste voller inspirierendem Material – unter anderem einzigartige Fotodrucke. Aufpatchen, zerschneiden, neu zusammensetzen, besticken, Materialkontraste schaffen, etwa mit Stoff und Strick, matt und glanz, alt und neu... Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt, und mit sachkundiger Anleitung sind einmalige Kreationen entstanden.


Die Veranstaltungen


Programm

So 10.9.

11:00 Eröffnung, Begrüßung durch OB Michael Lang

Barbara Glazar, Hans Niessen: Tanzperformance und Musik

11:00-18:00 Kinderwerkstatt

18:00 Margit Hartnagel, Christine Koch: „Spindeleien“, Performance 

Fr 15.9.

16:30 Märchenstunde für Groß und Klein mit Barbara Bosker

Sa-So 16.-17.9. 

Textilworkshop „FreiSchneiderei“ mit Brigitte Katharina Maier 

Sa 16.9.

14:00-18:00 Kinderwerkstatt

18:00 Margit Hartnagel, Christine Koch: „Spindeleien“, Performance 

19:00 Ensemble Qwertzklang: „Posttraumatisches Musiktheater“

unter der Leitung von Bernhard Thomas Klein

So 17.9.

14:00-18:00 Kinderwerkstatt 

19:00 ChrisTine Urspruch, Oliver Bogen: „Die kleine Meerjungfrau“, Lesung und Musik 

Fr 22.9.

16:30 Märchenstunde für Groß und Klein mit Kristin Bitschnau

Sa-So 23.-24.9.

Textilworkshop „FreiSchneiderei“ mit Brigitte Katharina Maier 

Sa 23.9.

14:00-18:00 Kinderwerkstatt 

So 24.9.

14:00-18:00 Kinderwerkstatt

19:00 Workshoppräsentation „FreiSchneiderei“


FreiSpinnerei - Das Projekt

Kunst

Martha Materna 

Margit Hartnagel

 

ERBA Fotoinstallation

Thomas R. Huber

 

Veranstaltungen

Barbara Glazar

Hans Niessen

Margit Hartnagel

Christine Koch

Barbara Bosker

Kristin Bitschnau

Bernhard Thomas Klein

ChrisTine Urspruch

Oliver Bogen

 

Workshops

Tarek Röhlinger (Dozent ErBaLeben)

Philipp Hester (Dozent ErBaLeben)

Herbert Grob (Projektdurchführung ErBaLeben)

Brigitte Katharina Maier (Dozentin FreiSchneiderei)

Reinelde Summer (Leiterin Kinderprogramm)

Cecile Frankenberg (Leiterin Kinderprogramm)

 

Ausstellungstechnik

Frank Erhardt / Erhardt-Audio

 

Organisation, Öffentlichkeitsarbeit

Thomas R. Huber / Büro für Soziokultur

 

Idee

Martha Materna

 

In Zusammenarbeit mit der Stadt Wangen im Allgäu 

Amt für Kultur, Bildung und Sport; Fachbereich Stadtplanung

und dem Förderverein ERBA Museum e.V. Wangen im Allgäu


Danke!

Herzlichen Dank für Hilfe und Unterstützung!

Herbert und Margarete Grob, Diana Leist-Keller, Kristina Gunzelmann, Paul und Moritz Jejkal, Marina Teichmann, Ulrike Tröbst, Christina Betzen, Carolin Breimeier, Mario Brambilla, Familie Galbusera-Keller, Hermann Schneller, Jürgen Müller, Helga Mayer, Wilhelm Schupp, Hans-Jürgen Hartinger, OB Michael Lang und seinen Mitarbeiter*innen in den Fachbereichen sowie den hilfreichen und stets mitdenkenden Mitarbeitern des Bauhofs Wangen!

Hintergrundfotos auf dieser Website: © Christoph Morlok